Andrea Dins
Raum für schamanische und spirituelle Begleitung

Trauma im Alltag: 

Warum die Gegenwart genauso wichtig ist wie die Vergangenheit

Vielleicht berühren meine Worte etwas in dir. Dann nimm dir bitte die Freiheit, innezuhalten, Pausen zu machen und gut für dich zu sorgen.

Kennst du das? Du bist in einer Begegnung mit anderen Menschen – sei es bei der Arbeit, in einem Seminar oder sogar in einer alltäglichen Unterhaltung. Etwas passiert – vielleicht ein Kommentar, eine Bemerkung oder ein Blick – und plötzlich spürst du, wie dich eine Welle von Gefühlen überflutet. Du fühlst dich verletzt, überwältigt oder tief getroffen. Du möchtest aus deinem Herzen heraus teilen, was diese Erfahrung mit dir gemacht hat, und was du im Moment fühlst. Doch statt wirklich gehört zu werden, kommt die Antwort: „Das ist nur ein Trigger für ein altes Thema.“
In solchen Momenten kann es sich anfühlen, als ob deine gegenwärtige Erfahrung einfach abgetan wird – als „nur“ ein Echo der Vergangenheit. Aber was, wenn das, was du gerade fühlst, nicht nur ein „Trigger“ ist, sondern ein eigener, tiefgehender Schmerz? Ein Schmerz, der im Moment durch die Begegnung mit anderen Menschen ausgelöst wurde und nicht durch die Vergangenheit?

Was ist Trauma eigentlich?
Trauma entsteht, wenn das Nervensystem des Körpers mit einer Erfahrung konfrontiert wird, die seine Fähigkeit zur Verarbeitung übersteigt. Es ist eine Reaktion auf extreme Überforderung, die den Körper und Geist aus dem Gleichgewicht bringt. Dies kann durch physische, emotionale oder psychische Verletzungen geschehen. Trauma ist nicht nur das, was passiert, sondern vor allem das, wie der Körper und Geist auf die Erfahrung reagieren. Es ist eine Form von „Energie“, die im System gefangen bleibt, weil das Nervensystem überlastet ist und die Erfahrung nicht vollständig verarbeitet werden kann.
Die Wunden des Traumas können sich durch verschiedene Symptome zeigen – von Angst über Flashbacks bis hin zu körperlichen Reaktionen wie Zittern oder Herzrasen. Diese Symptome sind nicht „übertrieben“, sondern Ausdruck einer tiefen Verletzung im Körper und Geist, die nicht vollständig integriert wurde. Trauma ist nicht nur etwas, das in der Vergangenheit liegt. Es kann sich in jedem Moment manifestieren, wenn unser Nervensystem erneut überfordert wird.

Ein Trigger ist mehr als ein Auslöser
Es ist wahr: Oftmals reagieren wir auf die Gegenwart, weil sie Erinnerungen an alte Erlebnisse weckt. Doch Peter Levine, ein Pionier in der Traumaforschung, hebt hervor, dass Trauma nicht ausschließlich auf der Vergangenheit basiert. „Es ist ein Fehler, die aktuelle Erfahrung ausschließlich als Trigger zu betrachten. Eine Erfahrung in der Gegenwart kann für sich selbst traumatisch sein – unabhängig von der Vergangenheit. Wenn wir diese Erfahrung nur als einen Trigger abwerten, ignorieren wir das tatsächliche Potenzial dieser Erfahrung, eine eigenständige traumatische Wirkung zu haben.“ (Peter Levine, „In an Unspoken Voice: How the Body Releases Trauma and Restores Goodness“, 2010)

Wenn jemand also auf eine Situation in der Gegenwart sehr stark reagiert, dann ist es nicht nur ein „Echo“ der Vergangenheit. Es könnte auch eine wirkliche, tiefgehende Erfahrung sein, die für sich selbst den Raum braucht, verarbeitet zu werden. Wenn wir diese Reaktion als „nur ein Trigger“ abtun, verlieren wir das, was gerade im Moment passiert – den Schmerz und die Verletzlichkeit, die der andere Mensch möglicherweise im Hier und Jetzt fühlt.

Warum wir das gegenwärtige Erleben nicht abwerten sollten
Es ist sehr verletzend, wenn die eigene emotionale Reaktion nicht ernst genommen wird – wenn sie nicht gesehen wird. Wenn du in einer Begegnung oder einem Gespräch auf etwas reagierst und anstatt Mitgefühl oder Verständnis zu erhalten, nur hörst, dass es sich um einen „Trigger“ handelt, dann kann sich das anfühlen, als ob deine Gefühle nicht wahrgenommen oder als unwichtig abgetan werden. Und oft passiert etwas anderes: 

Du beginnst, dir selbst und deinen Gefühlen nicht mehr zu vertrauen. Es entsteht ein inneres Zweifeln, ob du wirklich das Recht hast, dich verletzt zu fühlen. Und vielleicht traust du dich in Zukunft nicht mehr, dich wirklich aus deinem Herzen heraus zu zeigen, weil du das Gefühl hast, dass deine Gefühle ständig relativiert oder abgewertet werden.
Das führt nicht nur zu einer Verletzung deiner inneren Stimme, sondern auch dazu, dass du dich nicht mehr traust, für dich selbst einzustehen. Statt deine Bedürfnisse und Gefühle zu äußern, ziehst du dich vielleicht zurück und versuchst, dich anzupassen, weil du befürchtest, dass deine Empfindungen wieder als „übertrieben“ oder „unbedeutend“ betrachtet werden.
Doch gerade hier ist es so wichtig, dass wir verstehen: Der Schmerz, den wir in einem Moment erleben, ist nicht weniger „wahr“ oder „wert“ als der Schmerz aus der Vergangenheit. Wenn wir die Reaktion auf das Hier und Jetzt nicht anerkennen, blockieren wir einen wesentlichen Teil des Heilungsprozesses. 

„Die Vermeidung, die gegenwärtige Erfahrung in ihrer vollen Intensität zu sehen, kann dazu führen, dass wir das aktuelle Trauma nicht richtig ansprechen. Stattdessen projizieren wir es einfach auf die Vergangenheit, was die Heilung im Hier und Jetzt behindert.“ (Peter Levine, „Waking the Tiger: Healing Trauma“, 1997)

Es ist nicht nur der vergangene Schmerz, der uns beeinträchtigt – es ist auch der Schmerz des Moments, den wir nicht verarbeiten können, wenn wir ihn immer wieder als „nur einen Trigger“ abtun. Heilung bedeutet nicht nur, mit der Vergangenheit abzuschließen, sondern auch, den Schmerz des Augenblicks zu fühlen und ihm Raum zu geben.

Verantwortung im Hier und Jetzt
Wenn wir in eine Begegnung mit anderen treten, ist es wichtig, nicht nur die eigenen Themen zu sehen, sondern auch zu erkennen, dass wir alle Verantwortung für unser Verhalten tragen. In vielen spirituellen und therapeutischen Kreisen wird oft gesagt, dass die Menschen, mit denen wir interagieren, uns nur „Spiegel“ für unsere eigenen unbewussten Themen sind. Und ja, das stimmt – es gibt oft eine tiefere Wahrheit in den Begegnungen, die uns auf unsere Schattenseiten hinweisen. Aber es ist ebenso wichtig zu erkennen, dass wir uns nicht nur als Spiegel füreinander begreifen, sondern auch als Verantwortliche für unser Verhalten und unsere Worte.
Wenn wir also bemerken, dass unser Verhalten jemanden verletzt, dann können wir nicht einfach sagen, „Das war nur ein Trigger für dein altes Thema“. In solchen Momenten ist es entscheidend, die Verantwortung zu übernehmen und zu fragen: 

„Was habe ich in diesem Moment gesagt oder getan, das den anderen verletzt hat?“ 

Das bedeutet, dass wir nicht nur in uns selbst forschen, sondern auch in der Gegenwart klar und respektvoll auf das reagieren, was im Dialog passiert.
Es erfordert Mut und Verantwortung, in einem Moment der Verletzung wirklich hinzuschauen – sowohl bei uns selbst als auch bei dem anderen Menschen. Wenn wir die Verantwortung für unser Verhalten übernehmen, ermöglichen wir authentische Heilung für uns selbst und auch für die anderen.

Was das für den Heilungsprozess bedeutet
In der Arbeit mit Trauma geht es nicht nur darum, die Vergangenheit zu heilen, sondern auch darum, die Gegenwart zu verstehen und zu integrieren. Wenn wir uns wirklich mit dem befassen, was gerade passiert – mit den Gefühlen und Reaktionen, die wir im Moment erleben – dann haben wir die Chance, in der Gegenwart zu heilen. Das bedeutet, dass wir den Schmerz und die Intensität des Moments anerkennen, auch wenn er unangenehm oder herausfordernd ist.

Levine sagt: „Die Herausforderung für Gruppenleiter und auch für alle Menschen in Begegnungen besteht darin, den gegenwärtigen Moment zu respektieren und zu erkennen, dass Trauma nicht nur aus der Vergangenheit kommt, sondern auch in der Gegenwart erlebt werden kann.“ (Peter Levine, „In an Unspoken Voice: How the Body Releases Trauma and Restores Goodness“, 2010) 

Wenn wir den gegenwärtigen Moment und die Reaktionen, die er in uns hervorruft, vollständig anerkennen, dann eröffnen wir einen Raum für authentische Heilung.

Für eine heilsame Kommunikation und Begegnung
In jedem Gespräch und jeder Begegnung können wir lernen, den anderen Menschen und ihre Erfahrungen zu respektieren und wirklich zuzuhören. Empathie bedeutet, den Moment in seiner vollen Tiefe zu spüren – sowohl in der Begegnung mit uns selbst als auch mit anderen. Wenn jemand in einer Begegnung stark reagiert, ist es wichtig, den Schmerz des Moments zu sehen und ihm Raum zu geben, anstatt ihn sofort als „nur einen Trigger“ abzutun. Mitgefühl heißt, zu akzeptieren, dass jeder Mensch seine eigene Geschichte und seine eigenen Empfindungen hat, die im Jetzt genauso bedeutungsvoll sind wie vergangene Erlebnisse.

Fazit: Die Gegenwart respektieren

Trauma ist nicht nur das, was in der Vergangenheit passiert ist – es ist auch das, was wir jetzt erleben. In unseren Begegnungen mit anderen Menschen, sei es in einem intensiven Gespräch oder in einer alltäglichen Interaktion, ist es wichtig, die Gefühle und Reaktionen der Gegenwart ernst zu nehmen. Indem wir die Intensität des Moments anerkennen, sowohl bei uns selbst als auch bei anderen, schaffen wir den Raum für echte Heilung – im Hier und Jetzt.
Wenn wir uns erlauben, sowohl den Schmerz der Vergangenheit als auch den Schmerz der Gegenwart zu fühlen und zu verarbeiten, eröffnen wir den Weg zu authentischer Heilung. Die Begegnung mit anderen wird zu einem Raum der Wertschätzung, des Verstehens und der Verarbeitung, der uns als Individuen und als Gemeinschaft heilt.

Dieser Beitrag soll dich dazu einladen, die Kraft des gegenwärtigen Moments in deinen Begegnungen zu erkennen. Wenn du deine eigenen Gefühle und die der anderen mit Empathie und Achtsamkeit wahrnimmst, schaffst du einen heilenden Raum für dich selbst und für alle, mit denen du in Kontakt trittst.


Wenn du merkst, dass dich Situationen im Alltag wiederholt überwältigen oder alte wie neue Wunden berühren, nimm das ernst. Es ist in Ordnung, dir Unterstützung zu holen. Professionelle Begleitung kann helfen, dein Erleben im Hier und Jetzt einzuordnen und zu halten. Du musst diesen Weg nicht allein gehen.

Eine junge Frau sitzt auf einem Stein in einem blühenden Garten, die Beine angezogen und den Kopf auf den Armen ruhend.
 
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